„Vitto“, fragt Simon neugierig und voller Erwartungen, „kannst du Fahrrad fahren?“
Manchmal beginnen außerordentliche Dinge auf die einfachste, banalste Weise. Mit einer Frage, die man zum Beispiel auf dem Spielplatz hört. Aber Simon ist Simon Gietl und er denkt bei seiner Frage an Vittorio Messini nicht an eine Runde um den Block. Er denkt an damals, als vor fast dreißig Jahren zwei Bergsteigerlegenden dem Ausdruck „by fair means“ eine neue Bedeutung verliehen. Er denkt, dass die Leistung von Kammerlander und Eisendle, 246 km mit dem Fahrrad und zwei große Wände in 24 Stunden, nicht nur nachgeahmt, sondern sogar übertroffen werden kann.
Das Video
Die Story
„ Ja, ich kann Fahrrad fahren. Ich glaube, ich weiß, woran du denkst, Simon: Es ist nicht ganz ohne, aber es ist machbar. Wir sind keine Rennradfahrer, aber ich glaube, wir können das schaffen.“ Simon klettert weiter abwärts. Als er spricht, hat er ein merkwürdiges Funkeln in den Augen: „Es stimmt, Vitto, ich denke an die Verbindung der Nordwände mit dem Fahrrad. Wir könnten es tatsächlich schaffen“, sagt er. „Und wir könnten sogar noch einen dritten Gipfel hinzufügen. Wie wäre es mit deinem Hausberg, dem Großglockner? Es dauert etwas länger, der Weg ist weiter, und der Aufstieg zum Großglockner ist nicht gerade kurz. Aber ich glaube, es ist machbar in zwei Tagen.“
Die Vorbereitung für so ein Abenteuer nimmt acht Monate in Anspruch. Man muss Beine und Lungen an das Fahrradfahren gewöhnen. Aber vor allem muss man sich mental vorbereiten. 48 Stunden ohne Schlaf sind machbar, es schlaucht, aber es ist nicht unmöglich. Aber zwei Tage am Stück wach und aufmerksam zu sein und dabei intensiv Sport machen, das ist schon wieder etwas ganz anderes, da muss man über Grenzen hinausgehen.
Der Ortler
Am Ortler herrscht dichtes Schneetreiben, so sehr, dass man vom Weg abkommen kann. Simon und Vitto sind irgendwo dort, unterhalb der ersten Eiswand, die zur langen Felsschlucht führt. Ihre Lampen sind nicht mehr zu sehen und selbst ihre GPS-Tracker scheinen den genauen Standort nicht mehr erkennen zu können. Bis Mitternacht sind es noch wenige Stunden. Sie sind gerade erst gestartet, aber die Sache sieht nicht gut aus. Natürlich sind sie noch voller Energie, aber der Schneesturm ist heftig: einer von der Sorte, der einen zum Umkehren zwingt, bei dem man so schnell wie möglich nach Hause möchte. Simon und Vitto beratschlagen sich, an die Wand gepresst, damit ihre Worte nicht vom Wind verweht werden. Sie haben eine Entscheidung getroffen: eine halbe Stunde. Sie würden dem Ganzen eine halbe Stunde geben, wenn es dann nicht klappt, dann brechen sie ab. Denn ein guter Alpinist ist einer, der alt wird, vor allem, wenn er Kinder hat.
Es hört nicht auf zu schneien. Aber der Schneesturm beruhigt sich soweit, dass sie sehen können, wo sie sind und wo sie hin möchten. Simon und Vitto setzen den Aufstieg fort, schnell und präzise die Eiswand hinauf. Um Mitternacht erreichen sie den Gipfel. Der Abstieg ist wie ein Traum: Erst auf Skiern durch unglaublichen Pulverschnee, frischen, leichten Schnee, den Ende Mai nur noch sehr wenige Menschen erleben dürfen. Dann geht es zu Fuß durch die krachende Stille der Wälder, Kurve um Kurve. Anschließend ist es Zeit, auf die Räder zu steigen, denn es gilt, keine Zeit zu verschwenden.
In Kastelbell im Vinschgau begrüßt sie ein rosa Sonnenaufgang. Sie sind schon vor acht in Bozen, genug Zeit für ein Croissant und mehrere Kaffees, und schon geht es weiter, zurück im Sattel in Richtung Pustertal. Jetzt führt die Straße bergauf und die Sonne brennt – das ist keine entspannte Radtour, soviel ist klar. Als sie Toblach erreichen, ist der Himmel wieder Wolken verhangen, eine willkommene Abwechslung von der Hitze für Simon und Vitto. Ein Tropfen fällt, dann noch einer, dann ein Wolkenbruch. Das passiert in den Dolomiten im Sommer oft, ein kräftiger Schauer, der alles durchnässt, so stark, als würde das Wasser auf einen einprügeln. Unerschütterlich treten die beiden Freunde weiter, auch wenn sich die Erschöpfung bemerkbar macht.
Der Weg nach Misurina ist keine Spazierfahrt, aber die echte Herausforderung kommt, wenn die Straße zu den Drei Zinnen ansteigt. Fast fünf Kilometer, 473 Meter Höhenunterschied, eine durchschnittliche Steigung von 10 %: ein kurzer, gnadenloser Anstieg, der für sich genommen schon anstrengend genug ist, doch die zwei haben schon Hunderte von Kilometern in den Beinen und den Ortler hinter sich.
Die Große Zinne
Die Drei Zinnen sind keine Berge. Ihre elegante, isolierte, hochaufragende Form ist vor allem ein Symbol, und schon das Berühren dieses Felsens ist eine Emotion. Simon und Vitto lassen ihre Fahrräder zurück und wanken in Richtung der Route Comici-Dimai an der Großen Zinne. Eigentlich läuft alles ganz gut, wenn es nur nicht wieder angefangen hätte zu regnen. Die ganze Route ist nass. Nicht bloß Tropfen sondern ganze Bächlein laufen eiskalt in die Ärmel der Kletterer. Es ist eine verrückte Situation, aber erst nach drei Seillängen sagt jemand etwas. Es ist Vitto: „Möchtest du da wirklich hochklettern, Simon?“ Der Regen beantwortet seine Frage und fällt noch stärker.
Simon und Vitto schauen einander an. Abbrechen fällt nie leicht, vor allem nicht nach so vielen Mühen und monatelanger Vorbereitung, egal was die anderen denken. Aufgeben ist so schwer, weil es etwas über dich selbst aussagt – etwas, das du vielleicht nicht hören möchtest. Aber ein guter Alpinist ist der, der alt wird. Nach steilem Abseilen gelangen die beiden wieder zurück zum Boden. Während sie sich den Weg durch das Geröll bahnen, ihre Herzen schwerer als ihre Beine, zeigt der Berg ihnen eine Lösung: Die Route Spigolo Giallo, eine weitere Route von Emilio Comici an der Kleinen Zinne. Sie taucht aus einer dicken Wolke auf und die Bedingungen scheinen besser zu sein.
Im Nu sind die Gurte wieder angelegt und es kann losgehen. Der Aufstieg zum Gipfel dagegen ist zeitaufwendig und kräftezehrend. Um 21 Uhr haben sie es geschafft, 26 Stunden nach dem Start: Der „Rekord“ von 1991 wurde damit nicht gebrochen. Aber das Leben ist noch lang genug und bietet Gelegenheiten für einen nächsten Versuch. Simon und Vitto machen sich langsam auf den Weg nach unten, zunächst mit Abseilen, dann durchs Geröll. Dort warten ihre Fahrräder. Denn es ist Zeit, sich wieder auf den Weg zu machen, schnell, der Wind schneidet in die Gesichter. Die Grenze überqueren sie wie im Traum, ganz allein, nur begleitet vom Geräusch ihrer Pedalen und ihres Atems. Auf den 117 Kilometern, die sie vom Großglockner trennen, schließt Simon ab und zu ein Auge: wie Wale, die nur mit einer Gehirnhälfte auf einmal schlafen.
Der Großglockner
Der Anstieg ist vage und himmlisch, ganz wie im Traum. Die Moränen und kleinen Schmelzwasserseen ziehen an ihnen vorbei als säßen sie im Zug. Inzwischen ist „Erschöpfung“ nur noch ein Wort für etwas, mit dem sie sich später befassen möchten, nach dem Ende. Simon und Vitto sind zwei dunkle Gestalten in gletscherweißer Weite, ihre langsamen Schritte hinterlassen Spuren im Pulverschnee Richtung Mayerlrampe.
Oben auf dem Gipfel sind sie fast atemlos, es ist ein weiteres Abenteuer mit jemandem, der zusammen mit dir die Anstrengungen auf sich genommen hat, der die Mühen dieser kraftraubenden Aufgabe geteilt hat. Denn darum geht es im Leben, so funktioniert das menschliche Gehirn: Das befriedigende Gefühl hält nur an, wenn es schwierig zu erreichen ist. Auf dem Weg hinunter zu ihrer Ziellinie, nach fast 45 Stunden Action, schweigen Simon und Vitto. Die Zeit für Gespräche über ihre Gefühle und über mögliche neue Pläne wird kommen. Doch in diesem Moment gibt es nur Raum für das Wissen: Alpinismus ist gleich um die Ecke zu finden, da, wo der Lärm der anderen verebbt. Das musst du im Kopf behalten. Und manchmal musst du einen Schritt zurückgehen, um vorwärts zu kommen. Es wurde also nichts mit North3, aber wen stört das? Es war wunderschön und genau das zählt.
Sie sind angekommen. Simon macht einen Freudensprung, beginnt zu lachen und umarmt Vittorio. Es regnet wieder, doch das ist egal. Ihre Familien und Freunde sind da zum Anstoßen.