Simon und Manuel Gietls Project ORCA

UNSICHTBARE PINSELSTRICHE

Wenn man von Antholz emporblickt, kann man sie nicht sehen. Aber sie ist da, unmittelbar nördlich der Stadt, fast an der Grenze zu Österreich. Die Durrerspitze, ein Berg aus farbigem Granit, der durch ein System von Rissen und schwarzen Streifen gekennzeichnet ist. Eine große, ja riesige Felswand, die unmöglich zu übersehen ist. Und die wie ein Magnet all jene anzieht, die sich gern neue Routen erträumen und sie mit unsichtbaren Pinselstrichen aus Seilen und Bewegungen an den Fels zeichnen.

DIREKT HINTERM HAUS

Die Geschichte beginnt vor zehn Jahren in Antholz. Sie handelt von zwei Brüdern namens Manuel und Simon, die gern Zeit zusammen verbringen – am liebsten dort, wo sie sich zu Hause fühlen. Ihr Lieblingsbeschäftigung unterscheidet sich von denen anderer junger Männer: keine Videogames, keine Konsole, keine Karten. Am wohlsten fühlen sie sich inmitten der Berge, zwischen Felsen und Wäldern, und dorthin gehen sie, wenn sie gemeinsam etwas unternehmen wollen.

An einem warmen Augustnachmittag ist es so weit. Angesichts der stickigen, schwülen Luft erscheint die Idee, hoch hinaufzuklettern, an diesem Tag noch verführerischer. „He Manuel“, beginnt Simon, der vor dem Haus an einem eiskalten Bier nippt. „Was hältst du davon, wenn wir uns den morgen mal genauer ansehen?“

Manuels Blick folgt Simons ausgestrecktem Finger in die Ferne, gen Norden. Es dauert nur einen Moment, bis er auf der Durrerspitze verweilt und ein Lächeln auf seinem Gesicht erscheint. „Weißt du was? Das ist gar keine schlechte Idee. Ich habe zwar noch nicht alle Informationen zusammen, aber ich denke, dass es dort Potenzial für eine Route gibt. Der Fels macht einen guten Eindruck.“ Simon sieht genauer hin und schirmt seine Augen mit der Hand gegen die Sonne ab. „Ja, Manuel, das glaub‘ ich auch. OK, dann haben wir morgen was vor.“

VON BLAU NACH GRAU

Wenn man jung ist, erscheint einem die Nacht vor einem großen Tag immer viel zu lang. Man wacht auf, wälzt sich im Bett hin und her, schläft wieder ein und wacht immer wieder auf, bis endlich der Morgen da ist. Dabei weiß man, wie wichtig der Schlaf ist, denn man will ausgeruht sein und all die Energie tanken, die man brauchen wird. Der Morgen lässt immer auf sich warten – genau wie der Moment, an dem man endlich von zu Hause aufbricht und ein neues Abenteuer beginnt.

Es ist erst sechs Uhr, als Simon und Manuel sich auf den Weg machen. Die Amseln haben ihren Morgengesang noch nicht beendet und trällern ihre ganz persönliche Ode an den Sonnenschein und den neuen Tag. Der Weg ist lang. Die Rucksäcke, voll mit klirrender Trad-Ausrüstung, sind nicht leicht, aber sie steigen schnell auf, lassen den blauen Antholzer See hinter sich und nehmen das graue Geröll in Angriff, das bis nach oben führt. Die Belohnung für ihre Anstrengung haben sie dabei stets direkt vor ihren Augen, die immer mehr Details erfassen: eine zwar zerklüftete, aber solide Felswand, die imposant und dennoch einladend wirkt – eine Herausforderung, aber machbar.

NICHT ALLE SEILE KANN MAN SEHEN

Es ist Zeit zum Anseilen. Das ist immer ein ganz besonderer Moment, als würde man einen Pakt schließen oder einen Eid ablegen. „Ich bin da“, sagt man, wenn man das Seil das erste Mal durch das Gurtzeug führt. „Ich werde vorsichtig sein“, beim zweiten Mal. „Ich werde auf dich aufpassen“, wenn der Knoten sich strafft. Das Anseilen ist wie das Schwören eines Eids: Als würde damit der Bund zwischen zwei Menschen, der von Geburt an existiert hat, nun auch physisch bestehen. Dafür braucht es keine Worte, man muss einander nichts sagen. Es ist einfach so. Punkt. „Ok, ich leg dann mal los“, murmelt Simon. Manuel nickt, wachsam.

Da ist eine Kante. Eine Kante, unter einem kleinen Dach. Da ist ein Vorsprung, und eine Tasche, die ideal scheint, um den Haken zu platzieren. Der Tanz beginnt, ein vertikaler Balanceakt, mit den Füßen auf Reibung, mit immer kleineren Cams. Eine kleine Terrasse, ein Dach, das Seil endet. Der Sicherungsanker ist gesetzt. „Stand!“, ruft Simon. Ein paar Minuten bekannter Manöver, viele Male getestet und wiederholt, ausgeführt in absoluter Stille. „Ich komme!“, hört man Manuels schwache Stimme von unten.

Die erste Seillänge ist nur ein Vorgeschmack, die zweite ein Versprechen. Doch leider hält die dritte nicht, was sie verspricht: In einem Kamin sind zwei große Felsbrocken verkeilt. Es ist unmöglich, sie zu umgehen. Schon wenn man sie anschaut, scheinen sie sich in Bewegung zu setzen und beängstigend zu wackeln. Sie halten ein seltsames Gleichgewicht: zu instabil, um darüber zu klettern, aber gleichzeitig zu fest eingekeilt, um sie herauszuziehen.

EIN ANDERMAL

Nach mehreren Versuchen, müde und mit Kratzern übersät, beschließen Simon und Manuel, sich abzuseilen. Wie könnte man kein unbehagliches Gefühl haben, wenn man stundenlang mit den Füßen in der Luft hing, bedroht von zwei Hindernissen, die einen jederzeit ohne viel Federlesens überrollen hätten können.

Der Rückweg, von Grau nach Blau, verläuft still und ist übersät mit jener Art flüchtigen Pausen, in denen man kaum stehen bleibt und sich nur kurz umdreht, um hinaufzuschauen, zu seufzen und den Kopf zu schütteln. „Ein anderes Mal, Simon“, stößt Manuel aus – verzagt, aber bestimmt. „Die Berge laufen nicht weg.“ Simon nickt, sagt aber nichts, während er weiter einen Fuß vor den anderen setzt.

DAS LEBEN GEHT WEITER

Das Leben geht weiter. Und zwar im Eilschritt, denn bereits ein Moment der Ablenkung reicht, und schon werden die Tage zu Wochen, die Wochen zu Monaten, die Monate zu Jahren. Zehn Jahre, um genau zu sein. Zehn Jahre, in denen sich der Lebensweg der Gietl-Brüder in verschiedene Richtungen entwickelt und nur hin und wieder gekreuzt hat. Das ist normal und wahrscheinlich unvermeidlich, wenn man erwachsen wird: Arbeit, Familie, Freunde, bis einem irgendwann klar wird, wie viel Zeit vergangen ist, seitdem man seinen Bruder zum letzten Mal gesehen hat, und wie die Beziehung sich offenbar verändert, ja verdichtet hat.

Aber Simon und Manuel haben eine starke Beziehung, die sich nicht auf die tägliche Wiederholung gemeinsamer Rituale stützt, sondern auf eine Geschichte, eine solide Geschichte. Es dauert nicht lange, bis sie sich wiederfinden.

WIE EINE ORCA-SCHULE

Jeder weiß, dass Schwertwale keine Fische, sondern Säugetiere sind. Weniger bekannt hingegen ist die Tatsache, dass diese unglaublichen Tiere, weiß und schwarz wie die Felswand der Durrerspitze, eine sehr solide Familienstruktur haben, die man Schule nennt. Jede Orca-Schule hat ihre eigene Art zu jagen, sich zu bewegen und sogar zu kommunizieren. Und natürlich haben Orcas ihre eigenen Dialekte. Das Band zwischen den Mitgliedern derselben Schule hält ein Leben lang. Und auch am Ende ihres Lebens sind die Orcas noch in der Lage, einander wiederzuerkennen, miteinander zu kommunizieren und komplexe Aktionen untereinander abzustimmen.

Komplexe Aktionen wie das Eröffnen einer neuen Route, zum Beispiel. Oder noch besser, wie das Klettern über zwei verkeilte Felsblöcke, um eine neue Trad-Route zu ihrem Abschluss zu bringen, die man zehn Jahre zuvor zusammen mit dem eigenen Bruder an einer weiß-schwarzen Wand in den Bergen der Heimat begonnen hat.

Denn die Zeit verändert nur manche Dinge. Über andere hat sie keine Macht.

Tags: SALEWA

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